Thursday 28 May 2009

Merkel’s Germany: The European Union mainstream?

The German government has now posted the text of Chancellor Angela Merkel’s speech on Europe at the Humboldt University 27 May 2009.



Germany is the most populous member state of the European Union, its language the most spoken first language in the EU. Germany has been an engine of European integration (together with France), but it has been described as less European and more German since the Chancellorship of Gerhard Schröder.

In many respects, Germany has represented the mainstream of the European Union. Is this still the case?

Before analysing Merkel’s message, here is the text of the speech:




"Humboldt-Rede zu Europa" von Bundeskanzlerin Angela Merkel
Mi, 27.05.2009

in Berlin

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Professor Markschies,
Exzellenzen,
lieber Herr Professor Nolte,
auch von meiner Seite herzliche Grüße an Herrn Professor Pernice,
liebe Studentinnen und Studenten,
meine Damen und Herren!

Die Reihe der "Humboldt-Reden zu Europa" ist inzwischen eine Institution. Deshalb bedanke ich mich auch herzlich für die Einladung, heute im Rahmen dieser Reihe – fast schon einer ehrwürdigen Reihe – zu Ihnen zu sprechen.

Das Mobiliar im Auditorium Maximum ist, wie mir gesagt wurde, nur noch wenige Wochen im Stil der sechziger Jahre zu sehen. Es ruft bei mir Erinnerungen an meine eigenen Studienjahre – zwar nicht in Berlin, aber in Leipzig – zu Zeiten der DDR wach. In Berlin, nachdem ich hierher umzog, um an der Akademie der Wissenschaften zu arbeiten, endeten all unsere Schritte wenige Meter von hier. Es schien unvorstellbar zu sein, frei in den Westen reisen zu können, geschweige denn zur Europäischen Gemeinschaft zu gehören.

Wir feiern in diesem Jahr bereits den 20. Jahrestag des Mauerfalls. An diese Universität kommen Studentinnen und Studenten, die gar nicht mehr so richtig wissen, von welchem Lebensgefühl wir eigentlich sprechen. Sie wachsen hinein in ein wiedervereinigtes Deutschland und ein geeintes Europa.

In diesem Jahr feiern wir auch fünf Jahre Osterweiterung der Europäischen Union. Es ist erst wenige Jahre her, dass die Europäische Union 120 Millionen neue Bürgerinnen und Bürger hinzugewonnen hat.

Ich spreche oft mit meinem Freund Donald Tusk, dem polnischen Ministerpräsidenten, über diese Veränderungen und auch über den Anteil, den zum Beispiel die Gründung vonSolidarność für den Weg der Ostdeutschen und für die Freiheit ganz Mittel- und Osteuropas gehabt hat. Mutige Menschen in Polen, in Ungarn, der Tschechoslowakei und in der DDR haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass das Tor zur Überwindung der deutschen Teilung und der Teilung Europas aufgestoßen werden konnte.

Wenn ich mir überlege, was in den letzten Jahren in Europa geschehen ist, dann will ich noch einmal an die "Berliner Erklärung" erinnern, die wir anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge während unserer EU-Ratspräsidentschaft in Berlin verabschiedet haben. Wir – die 27 Staats- und Regierungschefs haben damals gesagt: "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint." Ich betone das: Wir sind wahrlich zu unserem Glück vereint.

Auch mein persönlicher Lebensweg hat sich durch die Überwindung der Teilung unseres Kontinents dramatisch verändert – Herr Professor Markschies hat eben darauf hingewiesen. Vielleicht wäre ich heute noch Physikerin in Berlin-Adlershof, wo heute die naturwissenschaftlichen Fakultäten der Humboldt-Universität angesiedelt sind. Stattdessen darf ich als Bundeskanzlerin des wiedervereinigten Deutschlands – und das ist eine wunderbare Aufgabe – an der Gestaltung der Europäischen Union mitwirken.

Gerade in unserem Jubiläumsjahr – 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall – sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, weil wir daraus lernen können und erfahren haben: Wandel und Veränderung zum Guten sind möglich. Das ist für uns Realität geworden. Wandel wird von mutigen Menschen gemacht. Die Kraft der Freiheit ist ihr Antrieb. So war es auch am Beginn der europäischen Einigung. Mutige Menschen haben tiefe Gräben, tiefste Gräben, überwunden und eine friedliche neue Ordnung aufgebaut.

Wenn man sich jetzt – im zeitlichen Umfeld des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik – noch einmal Bilder von damals anschaut und sich vergegenwärtigt, in welch materiell zerstörtem Zustand Deutschland sich damals befunden hat und welche Depression damals hätte aufkommen können, wenn sich nicht mutige Menschen mit Visionen ans Werk gemacht hätten, dann will man dafür sorgen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Deshalb liegt für mich das eigentlich Verbindende der Europäischen Union in den gemeinsamen Grundwerten, in einer verlässlichen Rechtsordnung und dem Streben danach, dass Wohlstand für alle geschaffen werden kann.

Europapolitik ist selbstverständlicher Teil unserer Innenpolitik geworden. 2007, zu Beginn unserer EU-Ratspräsidentschaft, haben wir eingeführt, dass wir uns in jeder Kabinettsitzung mit aktuellen Fragen der Europapolitik ressortmäßig beschäftigen. Das gehört dazu wie die aktuellen Punkte der Innenpolitik. Und es zeigt sich: Dieser Punkt ist oft einer der längeren im Kabinett, weil sehr, sehr viele Dinge entschieden werden müssen, weil es wichtig ist, dass wir ressortabgestimmt in diese Beratungen gehen. Ich weiß aus den Diskussionen mit den Kollegen im Deutschen Bundestag, dass es auch zum Alltag der Ausschussarbeit geworden ist, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die zum Beispiel im Europäischen Parlament anstehen.

Meine Damen und Herren, bei meiner politischen Arbeit in der Europäischen Union und für die Idee der europäischen Einigung leiten mich bei all dem, was im Tagesgeschäft zu tun ist, vier Prinzipien deutscher Europapolitik:

Erstens: Das Eintreten für deutsche Interessen in Europa und der Blick für das Ganze. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Deutschland hat die europäische Einigung stets als Teil seiner Staatsräson verstanden. Das ist im Grundgesetz angelegt – das wird nicht so oft betont, deshalb will ich es noch einmal zitieren. Die Bundesrepublik bekennt sich dazu, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen." Das zeugte in der damaligen Situation in 1949 von großem Weitblick. Dieser Teil des Grundgesetzes – gleich am Beginn – spielt zum Beispiel bei all den Fragen, die jetzt das Bundesverfassungsgericht behandelt und bei den Fragen des Lissaboner Vertrages, immer wieder eine große Rolle.

Das Grundgesetz ist auch in der Tat mit Blick auf eine europäische Einigung angelegt. In Artikel 24, Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: "Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern." – Auch wieder, wie ich finde, sehr weitsichtig. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik hätte eigentlich schon viel früher beginnen können.

Deutschland war stets ein starker Anwalt der Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittel- und Osteuropas – nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland selbst das Glück der Wiedervereinigung in Freundschaft mit seinen Nachbarn erfahren durfte. Deutschland ist mit den Erweiterungen von 2004 und 2007 in die Mitte der Europäischen Union gerückt. Endlich sind aus den östlichen Nachbarn Freunde und Partner geworden. Wir liegen nicht mehr in einer Randlage, sondern in der Mitte der Europäischen Union.

Was ist nun unser Selbstverständnis in der Europäischen Union? Zuerst einmal: Es gibt eine Reihe von Bildern, die ich ablehne und die aus meiner Sicht nicht stimmen. Immer wieder hört man von Deutschland als dem "Zahlmeister" der Europäischen Union. Natürlich, es ist richtig: Jede Deutsche und jeden Deutschen kostet die EU-Mitgliedschaft im statistischen Durchschnitt 263 Euro jährlich. Ich vergleiche das einmal mit dem Bundeshaushalt. In ihn zahlt jeder Deutsche 2.678 Euro ein. Die Zahlen beziehen sich auf 2007. Sie können daran erkennen: Die Sache hält sich in bestimmten Relationen.

Deutschland gehört als einer der wirtschaftsstärksten Mitgliedstaaten natürlich zu den Nettozahlern der Europäischen Union. Aber richtig ist auch: Deutschland profitiert mit Blick auf unsere Exportmöglichkeiten auch überdurchschnittlich vom EU-Binnenmarkt. Und – wenn wir es nur auf die Europäische Union und die Geldströme beziehen: Wir bekommen auch sehr viel Geld zurück. Die neuen Bundesländer zum Beispiel haben in den letzten sechs Jahren allein 29 Milliarden Euro Strukturfondsmittel erhalten. Die Betrachtung, dass wir hier in irgendeiner Weise überzahlen würden, teile ich also nicht.

Noch etwas wird mit dem Wort Zahlmeister verzerrt beschrieben, übrigens auch mit dem an sich gut gemeinten Wort Makler: Damit wird immer wieder suggeriert, dass Deutschland keine oder jedenfalls zu wenige eigene Interessen in Europa vertritt. Ich brauche sicher nicht zu betonen, dass das, was wir täglich tun, eigentlich das Gegenteil ist. Aber wir tun dies niemals mit dem Kopf durch die Wand, sondern immer mit einem Bewusstsein für das Ganze. Schon aus unserer geographischen Mittellage, unserer Wirtschaftskraft und aus unseren geschichtlichen Erfahrungen resultiert eine Rolle in Europa, die es uns ermöglicht, das Ganze relativ gut im Blick zu haben und dabei automatisch unsere eigenen Interessen zu vertreten. Das sind für uns, vielleicht sogar mehr als für andere Länder, keine Gegensätze.

Die vielfältige deutsche Wirtschaftsstruktur – klassische Industrie, Hochtechnologie, aber auch Landwirtschaft – macht uns oft zwangsläufig zu einem verständigen Vermittler unterschiedlicher wirtschaftlicher Interessen. Eine besondere Rolle spielt dabei von Anbeginn unser besonders enges und freundschaftliches Verhältnis zu Frankreich, dessen Bedeutung vor 1989 wie auch nach dem Fall der Mauer zentral für die Arbeit in Europa ist. Der ehemalige Präsident, Jaques Chirac, hat mir, als ich ihn als Oppositionsführerin zum ersten Mal besuchte, eine kurze und prägnante Einführung in den Zusammenhalt des Ursprungseuropas gegeben. Montanunion und Landwirtschaft spielten dabei eine zentrale Rolle. Ich bemerkte dann, dass die Landwirtschaft immer noch eine spielt, aber die Montanunion nicht mehr. Nichtsdestotrotz, das waren die Anfänge der europäischen Einigung.

Ich darf sagen, dass ich auch mit dem heutigen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy außerordentlich intensiv und gern zusammenarbeite. Noch immer ist eine gemeinsame deutsch-französische Initiative die beste Gewähr dafür, dass sich Europa auf Fortschritte einigt. Ich verstehe es nicht so, dass eine deutsch-französische Initiative so etwas wie ein Diktat ist. Aber wenn Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union gegeneinander arbeiten, ist die Gewähr relativ groß, dass es kaum zu einem Beschluss kommt. Deshalb ist unsere Zusammenarbeit so wichtig.

Ich verstehe die deutsche Europapolitik so: Wir treten für unsere eigenen Interessen ein und wir arbeiten zugleich darauf hin, eine Lösung für Europa in Zusammenarbeit mit den größeren und kleineren Staaten, also mit allen, zu finden. Solange ich in und für Europa arbeite, werde ich Trennungen und Spaltungen innerhalb der Union entgegenarbeiten. Ich glaube, dass dieses Verständnis unserer Europapolitik in den Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon besonders deutlich wurde.

Das führt mich nahtlos zum zweiten Prinzip, das meine Europapolitik leitet: Zur Vertiefung der Europäischen Union der 27 Mitgliedstaaten sollte es keine Alternative geben; ich gehe so weit zu sagen: sie hat Vorrang vor einer schnellen Erweiterung. Ich sage es ganz profan: Es geht – das erleben wir ja immer wieder – schlicht und einfach um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Mit 27 Mitgliedstaaten hat die Europäische Union eine stattliche Größe erreicht, was praktische Konsequenzen hat.

Wenn wir es mit der Aussage ehrlich meinen, dass kleine und große Länder eine ähnliche Rolle spielen sollen, dann heißt das natürlich, dass die Redezeiten, wenn jeder der 27 Staats- und Regierungschefs zu jedem Tagesordnungspunkt das Wort ergreift, beträchtlich sind. Das erfordert eine gewisse Einübung, ist oft sehr interessant, aber nicht beliebig verlängerbar. Da ist man dankbar, wenn man einen Vorsitz hat, der straff führt und einem trotzdem den Eindruck vermittelt, dass alles gehört wird.

Auch deshalb brauchen wir den Vertrag von Lissabon, denn er wird dem Europäischen Rat einen Präsidenten geben, der über eine Periode von zweieinhalb Jahren mehr Kontinuität in die Arbeit des Europäischen Rates hineinbringt, Interessen bündeln kann und hoffentlich für mehr Schnelligkeit und Praktikabilität der Arbeit sorgt.
Der Vertrag von Lissabon wird auch das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber stärken. Deshalb ist die Wahl am 7. Juni auch von außerordentlicher Bedeutung. Damit wird die Demokratie in Europa gestärkt. Was auch ganz wichtig ist: Der Vertrag von Lissabon wird auch die Zuständigkeiten der Europäischen Union besser beschreiben und die Rolle der nationalen Parlamente stärken, also auch das Miteinander von nationalem und europäischem Parlament. Mit wachsender Bedeutung des Europäischen Parlaments hatte es manchmal schon Verlustängste bei den Parlamentariern bei uns zu Hause gegeben, die ich sehr gut verstehen kann. Das kommt durch den Lissaboner Vertrag wieder in eine bessere Balance.

Deshalb ist es wichtig – ich möchte dies von dieser Stelle aus noch einmal tun –, alle Verantwortlichen dazu aufzurufen, das Ratifikationsverfahren so schnell wie möglich abzuschließen. Ich vertraue darauf, dass die Iren sich für Europa entscheiden. Der Vertrag soll, wie die 27 Mitgliedstaaten im Dezember vergangenen Jahres beschlossen haben, noch in diesem Jahr in Kraft treten. Ich setze darauf, dass uns das gelingt. Dann hätten wir ein gutes Fundament für eine Europäische Union, die ihre Verantwortung in der Welt wahrnehmen kann und ihr gerecht wird.

Ich sagte es: Spaltungen in Europa sind mit mir nicht zu machen. Das ist auch der Grund, warum ich den oft nicht zu Ende gedachten Forderungen nach verstärkter Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Euro-Raum entgegentrete, weil ich glaube, dass dies die Gefahr einer Spaltung in sich birgt. Der einheitliche Binnenmarkt ist die Grundlage der Union aller Mitgliedstaaten – sowohl derer, die schon zum Euro-Raum gehören, als auch derer, die Nicht-Euro-Staaten sind. Der Rat der 27 Finanzminister muss deshalb die entscheidende Rolle bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik spielen, wie es in den Verträgen vereinbart ist.

Wenn ich deutlich mache, dass es keine Trennungen im Innern geben darf, füge ich hinzu: Darauf sollten wir auch in unserem Außenverhältnis achten. Europa darf sich niemals selbst spalten oder spalten lassen. Das war eine beklemmende Situation während des Irakkrieges im Jahre 2003. Ich bin sehr froh, dass es uns während der französischen Präsidentschaft, als wir mit dem Konflikt zwischen Russland und Georgien wieder eine sehr heikle außenpolitische Situation hatten, gelungen ist, die Europäische Union zusammenzuhalten, und zwar von Italien bis zu den baltischen Staaten. – Die Länder sind in diesem Zusammenhang nicht ganz zufällig gewählt. – Deshalb ist es wichtig, dass wir alles für einen Zusammenhalt tun.

Im Übrigen wird im Zusammenhang mit Europa auch von mehreren Geschwindigkeiten gesprochen und so getan, als sei das ganz einfach möglich. Eine stärkere Zusammenarbeit von einigen Mitgliedstaaten bedarf immer der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Auch die Machtbefugnis und die Möglichkeiten des europäischen Parlaments ermöglichen eine breitgefächerte unterschiedliche Intensität der Zusammenarbeit nur sehr schwer. Ich sage dann immer spaßeshalber: Wenn wir neue Felder haben, in denen wir in kleineren Gruppen zusammenarbeiten, soll man dann die Parlamentarier der nicht mitarbeitenden Länder hinausschicken? Wer entscheidet dann? Es würde die gesamte Statik der Europäischen Union zerstören. Wenn es nur um Gruppen von Staats- und Regierungschefs ginge, könnte man sich noch eher arrangieren. Aber in der Dreier-Balance von Parlament, Kommission und Rat ist das aus meiner Sicht sehr, sehr schwierig. Die Krönung wäre, man würde in einem Gebiet stärker zusammenarbeiten, wobei ein Kommissar genau für dieses Feld verantwortlich ist, der aus einem Land kommt, das bei der verstärkten Zusammenarbeit gar nicht mitwirkt. Also, ich bitte diejenigen, die so etwas immer wieder proklamieren, dies etwas besser zu durchdenken. Vielleicht übersehe ich auch etwas; ich glaube aber nicht.

Natürlich muss die Europäische Union handlungsfähig sein. Das heißt aber nicht, dass es nun keine Beitrittsperspektiven mehr gibt. Wir müssen zum Beispiel den Ländern des westlichen Balkans eine solche Perspektive einräumen. Die Frage ist nur: Was machen wir jetzt vorrangig? Derzeit ist nach der letzten Erweiterungsrunde die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nicht in ausreichender Weise gegeben und muss erst einmal wiederhergestellt werden. Und ich füge hinzu, dass die, die sich mit der Ratifikation des Lissaboner Vertrages am schwersten tun, meist die Länder sind, die am schnellsten die nächste Erweiterungsrunde wollen.

Ich fasse zusammen: Deutsche Interessen und das Ganze sehen sowie die Frage der Handlungsfähigkeit, die wir auch in Form der Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit sehen müssen.

Das dritte Prinzip lautet: Wir müssen uns das Unvergleichliche der Europäischen Union bewusst machen.

Ich weiß, dass bei den "Humboldt-Reden zu Europa" die Frage der Finalität der Europäischen Union immer wieder eine große Rolle gespielt hat. Ich werde Sie an dieser Stelle enttäuschen müssen, weil ich glaube, dass die Fernziele in diesem Zusammenhang manchmal den nächsten notwendigen politischen Schritt schwerer machen könnten. Die Europäische Union setzt sich seit langem für die möglichst präzise Klärung der Verfasstheit ein, wobei ich glaube, dass der Vertrag von Lissabon eigentlich das Optimum der derzeitigen Bemühungen ist.

Schon ein kleiner Austausch mit Nachbarländern darüber, was denn eigentlich die Kommission in unserem beständigen Staatsverständnis, wie wir es in Deutschland haben, ist – wobei wir dazu neigen würden, zu sagen, sie habe ähnliche Formen wie eine Regierung –, zeigt, dass dies in Frankreich und vielen anderen Ländern auf erbitterten Widerstand stößt.

Folgende Frage habe ich neulich in einem anderen Zusammenhang erörtert: Warum hat das Europäische Parlament eigentlich nicht die Legitimation, auch selbst Gesetzesinitiativen zu ergreifen, wie es im Deutschen Bundestag selbstverständlich ist? Dies spricht dafür, dass wir uns in einem Gebilde eigener Art befinden und deshalb das Anlegen staatsrechtlicher Maßstäbe an die Europäische Union sicherlich sehr schwierig ist. Wir können, indem wir diese Frage immer wieder diskutieren, sehr schnell zu einer Überforderung, zum Auslösen von Ängsten beitragen.

Deshalb liegt mein Hauptaugenmerk bei der Frage, was die Europäische Union ist, darauf, dass klar definiert ist, wie sie sich zu den Nationalstaaten verhält, dass die Nationalstaaten die Herren der Verträge sind, dass die Kompetenzübertragung eindeutig geregelt ist, dass wir alles vermeiden, was Kompetenzübertragung durch die Hintertür bedeutet, und dass wir uns dann daran orientieren: Können wir die Aufgaben, die wir erfüllen müssen, mit der Art, wie wir die Europäische Union gestaltet haben, auch wirklich erfüllen? Diesbezüglich hat uns die jetzige internationale Wirtschafts- und Finanzkrise vor eine sehr große Aufgabe gestellt. Die Probe war hart, aber ich finde, dass die Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union im Grundsatz recht gut funktioniert hat.

Die Zuständigkeit für die Haushalts-, die Steuer- und die Sozialpolitik liegt aus guten Gründen nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur waren deshalb auch nationalstaatliche Aufgaben. Aber die Europäische Union ist der notwendige Ordnungsrahmen, in dem die Mitgliedstaaten über ihre Handlungsoptionen entscheiden. Gerade der gemeinsame Binnenmarkt und seine Regelungen schützen uns vor Protektionismus zwischen den Mitgliedstaaten. Wir haben nationalstaatlich gehandelt und trotzdem hat uns die Europäische Union in Form ihres Ordnungsrahmens ein Wettbewerbsfeld gegeben, in dem wir ohne Protektionismus miteinander arbeiten. Wie groß die Versuchung von Protektionismus in einer solchen wirtschaftlichen Ausnahmesituation ist, haben wir erlebt. Für uns, für Deutschland als Exportnation ist natürlich die Frage, dass wir mit freiem Handel leben können, dass wir als Europäische Union ein gutes Beispiel geben können, von zentraler und eminenter Bedeutung.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass das Vertrauen in die Europäische Union besonders dann gut funktioniert, wenn sie selbst gut funktioniert und sie sich vor allen Dingen immer wieder daran erinnert – damit komme ich zum vierten Prinzip –, dass sie auf der Basis gemeinsamer Werte arbeitet. Deshalb müssen wir die Werte der Europäischen Union, auf die wir uns geeinigt haben und mit denen wir auch die Erweiterung immer bestritten haben, als Kompass für die neuen Herausforderungen nutzen.

Es ist unstrittig, dass uns die Europäische Union Frieden und Freiheit gebracht hat. Die Richtungsentscheidung am Anfang war, die institutionelle Bande zwischen ehemaligen Kriegsgegnern so zu schmieden, dass Frieden in Europa dauerhaft herrschen kann, und Mechanismen so zu etablieren, dass vertrauensvolles und solidarisches Handeln dauerhaft möglich ist.

Und das ist auch heute noch so: Nicht allein der Euro und der Binnenmarkt halten die Europäische Union zusammen. Es sind die gemeinsamen Werte, die unser solidarisches Handeln ermöglichen. Die gemeinsamen Werte geben uns die Kraft zum solidarischen Handeln. Denn es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass sich zum Beispiel Länder als Nettozahler dafür einsetzen, dass andere auch auf die Beine kommen. Das bedarf ja eines inneren Zusammengehörigkeitsgefühls. Das sind Grundlagen, die wir durch unsere tägliche Arbeit allein nicht schaffen können. Von denen leben wir.

Deshalb haben wir an einer Grundrechtecharta gearbeitet und diese in der Berliner Erklärung gewürdigt. Wir setzen auf die Kraft der Freiheit. Wir setzen auf den Menschen. Er steht im Mittelpunkt. Seine Würde ist unantastbar. So, wie dies im Grundgesetz steht, so ist es auch das gemeinsame Verständnis aller europäischen Mitgliedstaaten. Indem wir auf die Kraft der Freiheit setzen, erhalten wir uns auch unsere Vielfalt, denn wir haben gelernt: Aus der lebendigen Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Regionen können wir für uns alle das Beste gewinnen. Wir können gemeinsam stärker sein, als jeder für sich allein ist. Deshalb glaube ich auch, dass wir uns immer wieder auf die Eigenschaft besinnen sollten, die für mich auch die Seele Europas ausmacht: die Toleranz. Nur ein Europa, das diese Seele kennt und sich seiner Werte bewusst ist, kann die richtigen Weichenstellungen für die Zukunft vornehmen. Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Einigkeit und Freiheit natürlich deutlich. Beides muss immer wieder in ein Gleichgewicht gebracht werden.

Daraus ergibt sich die Rolle Europas auch nach außen. Das will ich an zwei Bereichen noch einmal deutlich machen. Zum einen ist dies der Friedensauftrag, der nach innen weitgehend erfüllt ist, sich jetzt aber zunehmend nach außen richtet. Mit unserer Erfahrung können wir natürlich Beispiel sein, wie man Konflikte, die scheinbar über Jahrhunderte hinweg nicht zu überwinden sind, doch überwinden kann. Wir haben es geschafft. Wir sollten deshalb nicht hochmütig sein. Die europäische Geschichte gibt uns keinerlei Grund, anderen große Vorhaltungen zu machen, wenn man betrachtet, wie lange wir gebraucht haben. Aber wir können zumindest sagen, wie es gehen könnte.

Die Europäische Union hat inzwischen auch handfeste Friedensaufgaben übernommen – über 20 zivile und militärische Missionen seit 1999 – und damit ihren Beitrag zu Stabilität und Sicherheit geleistet. Das heißt, die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist eine Form, unsere Werte in der Welt zu verbreiten und zu verankern.

Am Anfang war sicherlich manch einer skeptisch; auch ich war es. Der Bundesverteidigungsminister ist heute hier. Es gibt Missionen, die meiner Überzeugung nach gar nicht anders gemacht werden konnten, wenn ich zum Beispiel an die Vorbereitung der Wahlen im Kongo denke. Das war eine Mission, die wir sehr gut durchgeführt haben und die auch die Europäische Union ein Stück weit zusammengeschweißt hat. Ich glaube, dass die Bedeutung des Politikbereichs der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wachsen wird. Wir verstehen sie immer so, dass sie nicht gegen die NATO gerichtet ist. Wir wollen hier vielmehr eine enge Verzahnung haben.

Natürlich wissen wir, dass 500 Millionen Menschen in Europa in einer Welt mit insgesamt über sechs Milliarden Menschen manches bewegen können. Wenn wir uns die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise anschauen, wenn wir uns andere Herausforderungen anschauen, stellen wir fest, dass andere europäische Länder und selbst das größte – Deutschland mit 80 Millionen – zu klein sind, um gegenüber 6,5 Milliarden Menschen viel auszurichten. Wenn wir aber als 500 Millionen – immerhin eine halbe Milliarde – und auch mit unserer Wirtschaftskraft im Rücken gemeinsam bestimmte Ziele vertreten, dann haben wir eine Chance, auf die Gestaltung der Globalisierung, auf die Gestaltung der Welt und der internationalen Institutionen doch einen prägenden Einfluss zu nehmen. Dies ist nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe unserer Generation. Hier liegt eine zusätzliche Dimension Europas, die es vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren in dieser Klarheit aus meiner Sicht noch nicht gab.

Dabei kann ich über den Klimaschutz reden, wozu Europa als Vorreiter unter der deutschen und französischen Ratspräsidentschaft Beschlüsse gefasst hat, die wir jetzt gemeinsam mit unseren Partnern umsetzen müssen. Wir hoffen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihren Beitrag dazu leisten werden, um in Kopenhagen am Jahresende ein Folgeabkommen für Kioto verabschieden zu können. Aber wir können, ohne uns zu überheben, sagen: Ohne die führende Rolle der Europäischen Union, ohne die treibende Kraft der Europäischen Union würde es zu einem solchen Kopenhagener Beschluss nicht kommen. Das ist meine feste Überzeugung.

Unspektakulär funktioniert inzwischen unsere gemeinsame Handelspolitik, die wir immer wieder auch in den Verhandlungen um die Doha-Runde – manchmal auch extrem kompliziert – durchsetzen. Da ist es fast zwingend, dass Frankreich und Deutschland sich auf eine gemeinsame Position verständigen, was nicht immer einfach ist, wofür aber der gemeinsame Wille da ist. Gerade jetzt, in dieser internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise, ist das von allergrößter Bedeutung.

Wie sieht unsere Wirtschaft auf der Welt in Zukunft aus? Für mich hat diese Krise gezeigt: Es bedarf auch hier einer gemeinsamen Wertegrundlage. Immerhin sind wir als Deutsche stolz auf unsere Soziale Marktwirtschaft. Aber wir haben auch ein gemeinsames Verständnis des Wirtschaftens im Rahmen der Europäischen Union. Dies ist auch im Vertrag von Lissabon verankert. Ich will zitieren: "Die Union … wirkt auf … eine in hohem Maße wettbewerbsfähige Soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, … hin."

Sie sehen daran, nicht allen ist der Begriff Soziale Marktwirtschaft so geläufig wie uns. Aber der Grundgedanke hat Eingang in den Lissabonner Vertrag gefunden, er ist das Fundament, von dem aus wir für eine internationale Ordnung arbeiten, in der ein Wirtschaftssystem nicht Einzelne ein riesiges Risiko eingehen lässt und anschließend den daraus entstandenen Schaden auf die Gemeinschaft abwälzt.

Ich bin der Meinung, dass wir die Soziale Marktwirtschaft gegenüber den Macht- und Wirtschaftszentren der Welt als erfolgreiches Modell herausstellen und für die Umsetzung ihrer Prinzipien eintreten müssen. Ich werde dafür sehr oft belächelt: Überhebt man sich damit nicht, ist das nicht ein viel zu hoher Anspruch? Da muss ich Ihnen sagen: Ich glaube, nein. Es ist ein dickes Brett, das zu bohren ist. Aber für mich gibt es keine Alternative zu einer Wirtschaftsordnung, die sich auch auf den Grundsatz gründet, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass Kinderarbeit und Raubbau an der Natur nicht hingenommen werden, dass wir soziale und ökologische Mindeststandards haben. Ansonsten werden wir in einer Welt von vielleicht neun Milliarden nicht mehr so leben können, wie wir es wollen. Wir haben also gar nicht die Wahl, ob wir uns einsetzen. Entweder wir verlieren unsere eigenen Lebensgrundlagen oder aber wir kämpfen dafür, dass diese Prinzipien woanders auch eingehalten werden.

Deshalb haben wir uns auf dem G20-Gipfel sehr vehement dafür eingesetzt, dass jetzt alles getan wird, damit wir aus dieser Krise Lehren ziehen und sich dies auch in der Struktur der internationalen Finanz- und Wirtschaftsordnung durchsetzt. Wir treten in der Europäischen Union ein für eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens. Ich glaube, dass wir neben der Charta der Menschenrechte auch eine Grundlage unserer Wirtschaftsordnung brauchen.

Meine Damen und Herren, Sicherheitspolitik, Klimaschutz, Soziale Marktwirtschaft, Handelspolitik – all das sind Aufgaben, in denen wir als Mitgliedstaaten nicht mehr allein auftreten können, sondern bei deren Erfüllung wir als Gemeinschaft auftreten müssen und so eine starke Stimme in der Welt sind. Diese Aufgabe müssen wir in den nächsten Jahren unbedingt vorantreiben. Darin sehe ich auch eine zentrale Mission der Europäischen Union.

Ein starkes Europa ist für uns eine Europäische Union, die die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger und die Vielfalt der europäischen Länder und Regionen respektiert. Das heißt auch, dass sich das Handeln der jeweiligen Organe auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren muss. Es gibt immer wieder skurrile Beispiele. Kürzlich mussten wir uns mit der Dosis des Salzes im Brot befassen, da man sich auf europäischer Ebene plötzlich ängstigte, dass wir alle ungesund leben. Das mag zwar sein, aber am Brot und seinem Salzgehalt liegt es wohl nicht. Wir haben dies abgewendet und uns wichtigen Sachen zugewendet.

Es geht darum, dass wir nicht gegen andere in der Welt arbeiten, sondern mit unseren Partnern weltweit zusammenarbeiten. Deshalb wird es auch darauf ankommen, die Kooperation in die verschiedenen Richtungen unserer Nachbarn auszuweiten, wie wir es jüngst mit der östlichen Dimension und wie wir es mit der Mittelmeerunion gemacht haben. Wir müssen unsere Stärke, die wir nach innen gewonnen haben, jetzt auch nach außen wenden, um einen Beitrag für eine friedliche, sichere und freiheitliche Welt zu leisten. Ich glaube, Europa kann das. Ich sage auch ganz bewusst: Mir macht das Spaß, auch wenn es oft mühselig ist, aber wenn man sich kümmert, geht es auch ein bisschen voran. Es kommt immer auf die Maßstäbe an. Stillstand ist jedenfalls keine Alternative. Deshalb ist Europa eine wunderschöne Sache.

Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.


***

Comments are welcome. I am going to take a closer look at Merkel’s speech, before deciding i fand what I am going to write about it.



Ralf Grahn

3 comments:

  1. She speaks of the need for deeper integration, yet then says that the Lisbon Treaty is all that is needed for the time being. I wonder what she thinks is the right time-span for the time being, or what conditions are needed for a further round of constitutional reform.

    [Still, I think that Lisbon will do for the time being...]

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  2. Eurocentric,

    Yes, I have been thinking about the same issues as you, and just before seeing your comment I posted my impressions about Merkel's speech.

    If I speculate freely, I would guess that she has at least some deep convictions, even if she limits her observations to an extremely pragmatic level.

    But Merkel's basic attitude and reasoning are at least constructive in the main.

    What a huge difference, when we compare to British discourse on Europe in general, be it government, opposition, media or popular.

    What we really need is not only a real British debate on where its EU policies are heading, but a European debate about the future of the UK in the European Union.

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  3. Danke sehr an den Autor.

    Gruss Nanna

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